Von Werbung, Selbsttäuschung und Psychotherapie

Stellen Sie sich vor, Sie sprechen in Ihrer Psychotherapiesitzung über sehr persönliche Probleme und vielleicht sogar über eine Diagnose. Später gehen Sie dann einkaufen oder sind auf Social Media unterwegs und nehmen eine Werbung zu dem Thema aus Ihrer Psychotherapiesitzung wahr. Wie geht es Ihnen damit?

Dass die Werbung überhaupt etwas in Ihnen auslöst, liegt an einer Art Selbsttäuschung. Egal, wie überzeugt wir davon sind, völlig objektiv zu denken – das tun wir meistens nicht. Kognitive Verzerrungen nennen sich diese kleinen oder großen Denkfehler, die uns so oft unterlaufen. Doch sie haben ihren Sinn, denn sie helfen uns, die Welt zu erfassen. Mal vereinfachen wir aus Zeitdruck oder Effizienz, mal helfen uns kognitive Verzerrungen bei der Entscheidungsfindung oder wir bilden uns eine Meinung aus einem einzelnen Argument. In der Forschung gibt es zahlreiche Begriffe für verschiedene Fehlerkategorien: Der Illusory Truth Effect beschreibt zum Beispiel das Phänomen, dass sich die Glaubwürdigkeit einer Information erhöht, wenn wir sie mehrmals wahrnehmen. Deshalb bewerten wir Fake News auch dann oft als wahr, wenn sie sich wiederholen. Der Negativity Bias wiederum sagt aus, dass wir uns an Negatives häufig besser erinnern, als an Positives, weil wir ihm ein größeres Gewicht zuschreiben.

Doch zurück zu unserem Beispiel aus der Psychotherapie: Ihre Aufmerksamkeit wird vermutlich erhöht sein, wenn Sie die Werbung sehen oder hören. Sie begegnen Ihrem Thema zumindest das zweite Mal – das wird Ihre Sensibilität dafür wahrscheinlich erhöhen. Es wird sich auch eine emotionale Reaktion einstellen. Vielleicht empfinden Sie Angst oder Unbehagen, von dem Thema verfolgt zu werden. Oder Sie sind erleichtert, weil Ihnen vor Augen geführt wird, dass Sie nicht allein mit den Problemen sind. Da wir Menschen gerne Informationen selektieren – also immer nur einen Teil davon bewusst wahrnehmen – kann es auch sein, dass Ihnen beim Hören oder Sehen der Werbung ein sogenannter Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) unterläuft. Dann würden Sie alle Informationen, die etwas anderes behaupten als Ihr*e Psychotherapeut*in, schlicht ignorieren. Die Werbung wäre also entweder eine Bestätigung für Sie oder Sie würden sich gar nicht an sie erinnern.
Zuletzt ist noch ein anderer Fall denkbar: Wenn Sie beispielsweise dazu neigen, Dinge zu dramatisieren oder zu katastrophisieren und dies in der Psychotherapie bearbeitet werden soll, könnte eine Werbung, die ihrerseits selbst etwas dramatisiert, diese Bearbeitung verhindern. Kurz gesagt: Werbung kann bestehende Denkmuster verstärken und ihre Auflösung blockieren.

Egal, wie Sie auf die Werbung reagieren: Alle Effekte werden durch verschiedene Werbetechniken verstärkt. Das heißt, Sie sind hier den Denkfehlern besonders stark ausgeliefert. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden Sie sich deshalb intensiv mit dem Thema aus Psychotherapiesitzung und Werbung auseinandersetzen und ihm womöglich eine größere Bedeutung zumessen, als es in der Realität besitzt.

Weber, Silvana, und Elena Knorr. „Kognitive Verzerrungen und die Irrationalität des Denkens“. Die Psychologie des Postfaktischen: Über Fake News, „Lügenpresse“, Clickbait & Co, Springer Berlin Heidelberg, 2020, S. 103–115.