Instabilität, Selbstfokussierung, Experimentierfreude, Entwicklungsdruck

„In deinem Alter hatte ich schon längst einen Job, war verheiratet und gerade mit meinem zweiten Kind schwanger.“ Solche Aussagen müssen sich junge Erwachsene immer häufiger von ihren Eltern anhören. Sie selbst sind oft viel weniger selbstständig und haben noch nicht so viele unverrückbare Lebensentscheidungen getroffen. Finanzielle Abhängigkeit, vielfältige Wohnungssituationen und eine allgemeine Instabilität des Lebens scheinen eine ganze Generation zu betreffen. Die Zeit zwischen 18 und etwa 30 Jahren ist nun zum „werdenden Erwachsenenalter“ – zur „emerging adulthood“ – geworden. Als neue Entwicklungsphase beschreibt sie eine Zeit „in-between“, also ein Lebensabschnitt zwischen Jugend und Erwachsenenalter.

Die von einer Erforschung der eigenen Person geprägten Jugendphase hat sich seit ihrer Herausbildung in den 1950er Jahren stets verlängert. Besonders in den westlichen Industrieländern haben Emanzipation, sexuelle Revolutionen, verlängerte Schul- und Ausbildungszeiten sowie ein gesteigerter Fokus auf Selbst (-verwirklichung) für eine verlängerte Identitätsentwicklung gesorgt. Während wichtige objektive „Marker“ für das Erwachsensein (Auszug aus dem Elternhaus, Heirat, Beruf, Kinder) früher vor dem 30. Lebensjahr angesiedelt waren, erleben Erwachsene einige dieser Dinge oft in ihren frühen 30ern. Auch das Sich-erwachsen-Fühlen entsteht bei vielen erst deutlich später. So hat circa ein Drittel der 32-Jährigen noch immer nicht das Gefühl, erwachsen zu sein.

Allerdings gibt es diesbezüglich große Unterschiede: Menschen mit Migrationshintergrund, einer Erwerbstätigkeit oder einem*r Partner*in / Kindern fühlt sich früher eher erwachsen als Menschen, die in Deutschland geboren sind, noch keinen festen Beruf haben und Single sind. Außerdem finden sich Unterschiede zwischen Bildungsnähe („emerging adulthood“ deutlicher ausgeprägt) und Bildungsferne sowi

e zwischen Menschen mit viel Geld („emerging adulthood“ deutlicher ausgeprägt) und wenig Geld.

Ursachen für eine deutlich ausgeprägte Explorationsphase junger Erwachsener sind demnach eine zu lange Unterstützung durch die Eltern und unsichere Bindungsmuster. Aber auch elterliche Trennungsängste und eine Zunahme von Kontrolle und fragwürdigen Erziehungsprinzipien können sich auf das Erwachsenwerden auswirken. Viele Jugendliche erleben dann ein Gefühl des Dazwischenseins, fokussieren sich auf sich selbst, indem sie beispielsweise Verantwortung abgeben und führen ein von Experimentierfreude geprägtes Leben. Zwar haben die alten

„Entwicklungsaufgaben“ noch immer eine große Bedeutung für die jungen Erwachsenen. Doch der geringe Entwicklungsstand führt zu einer Anpassung der Entwicklungsziele und es können Aussagen wie die folgenden entstehen: „Ach, vielleicht will ich auch gar Kinder“, „Heiraten muss man ja heutzutage auch nicht mehr“, „Es ist mir gar nicht so wichtig, einen sicheren Arbeitsplatz zu haben und viel Geld zu verdienen“.

Selbstverständlich wird die Verschiebung auch von äußeren Faktoren der Moderne beeinflusst: Die Digitalisierung erlaubt ein „Weit-weg-Sein“ während einem gleichzeitigen Aufenthalt bei den Eltern; die Mietpreiserhöhung verzögert den Auszug, wir haben generell ein längeres Leben und müssen als Erwachsene zugleich möglichst lange jung bleiben. Und auch die Erwartungen an sich selbst steigen: Man sucht nun eine Seelenverwandtschaft statt einer stabilen Beziehung, eine große Leidenschaft im Beruf statt einen sicheren Job und überhaupt müssen wir uns immer mehr optimieren. Da ist es kein Wunder, dass sich junge Menschen nicht mehr so schnell festlegen wollen.

Hinzu kommt, dass zunehmend mehr junge Erwachsene – ungefähr ein Drittel – von psychischen Störungen betroffen sind, welche die Reifung verlangsamen. Obwohl in dieser Altersgruppe die höchste Rate psychischer Erkrankungen vorherrscht, weist sie zugleich die niedrigste Behandlungsrate auf – das Erwachsenwerden verzögert sich noch weiter. Nichtsdestotrotz ist die Identitätsentwicklung sowohl Voraussetzung für Paarbeziehungen, Berufseinstieg etc., als auch für Generativität – also das Kümmern um die zukünftige Generation. Eine jetzt länger andauernde Explorationsphase ermöglicht also auch eine gute Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft. In jedem Fall ist die Auseinandersetzung mit dem Thema der „emerging adulthood“ für viele Fragestellung innerhalb und außerhalb der Jugendpolitik relevant, wenn es zum Beispiel um die Herabsetzung des Wahlalters oder die Einführung eines sozialen Pflichtjahres geht. Zudem wirft die neue Entwicklung Fragen auf. Es geht beispielsweise um veränderte Arbeitsweisen der jungen Erwachsenen und um Themen wie Verbindlichkeit, (zeitliche) Flexibilität und die Generationenfrage.

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